Kontrolle

Ein Wort, das so harmlos klingt - und doch für viele Menschen mit Essstörung zum Mittelpunkt des Lebens wird. Ein Versuch das Chaos zu bändigen, der sich langsam gegen sich selbst wendet.

Essstörungen sind keine "Diäten, die zu weit gegangen sind". Sie sind komplexe psychische Erkrankungen, bei denen das Thema Kontrolle eine entscheidende Rolle spielt. In schwierigen Lebensphasen kann die Kontrolle über den eigenen Körper zur scheinbaren Zuflucht werden. Kalorien zählen, strenge Esszeiten, klare Regeln bezüglich Lebensmitteln, wiegen, bewegen - all das vermittelt kurzfristig das Gefühl von Stärke und Selbstbestimmung. Das Gefühl endlich etwas kontrollieren zu können, etwas im Griff zu haben.
Doch dass was zunächst wie Halt wirkt, wird schnell zum Käfig. Denn die Kontrolle verlangt immer mehr: noch genauer, noch strenger, noch weniger, noch weiter.

"Irgendwann kontrolliert man nicht mehr, man wird kontrolliert"

Kontrolle kann sich wie ein Schutzschild anfühlen, aber sie ist ein zerbrechlicher Schutz. Hinter ihr liegen oft Angst, Scham, Unsicherheit und Trauma. Wer eine Essstörung hat, weiss wie schwer es ist von diesen Regeln abzuweichen. Nur schon der Gedanke, "die Kontrolle zu verlieren", kann Panik auslösen - und doch wächst irgendwo die Sehnsucht einfach frei zu sein.

Der innere Konflikt zwischen dem Wunsch nach Freiheit und dem Bedürfnis nach Sicherheit ist ein zentraler Aspekt einer Essstörung. Es ist ein Kreislauf, der sich selbst verstärkt, je mehr Kontrolle man sucht, desto mehr verliert man sie über das eigene Leben und desto mehr Kontrolle erlangt die Krankheit.

"Lass einfach los"

Das klingt leicht, fast banal, doch für jemanden mit einer Essstörung ist Loslassen kein einfacher Schritt, wenn man dies überhaupt als solchen bezeichnen kann. Aus meiner Sicht ist es eher ein intensiver Prozess, der mit zahlreichen Fort- und Rückschritten, durchgemacht wird. Loslassen bedeutet sich dem Unbekannten zu stellen. Den eigenen Körper wieder zu spüren und ihm zu vertrauen. 

Loslassen heisst nicht Kontrolle völlig aufzugeben. Es bedeutet sie zu teilen - mit dem eigenen Körper, mit Vertrauen, mit dem Leben selbst, um Stück für Stück wieder Raum für Spontanität, Genuss, Leben und Liebe zu schaffen.

So können Angehörige unterstützen

Für Angehörige ist es oft schwer zu verstehen, warum Kontrolle so stark ist. Von außen wirkt sie vielleicht starr oder zwanghaft - doch für Betroffene fühlt sie sich oft überlebenswichtig an.

Deshalb ist es entscheidend, nicht zu drängen, sondern da zu sein.
Zuhören, ohne zu bewerten. Geduld zeigen, auch wenn Rückschritte passieren. Den Blick nicht nur auf das Essverhalten richten, sondern auf die Person dahinter - mit all ihren Ängsten, Sehnsüchten und Stärken.

Manchmal ist das größte Geschenk, das Angehörige machen können, einfach: da zu bleiben, auch wenn sie das Gefühl haben, nichts tun zu können

Ein Stück meines "Loslassen"

Mein "Loslassen" war kein einzelner Moment, keine Entscheidung über Nacht. Es war ein Prozess aus Rückschritten, kleinen Erfolgen und dem wiederkehrenden Versuch milder zu werden - mit mir selbst. Niemand konnte mich zum "Loslassen" überreden, ich musste zuerst selbst erkennen, wie tief in der Erkrankung ich steckte, bis ich die Notwendigkeit sah, mich selbst aus diesem Gefängnis zu befreien und mir professionelle Hilfe zu holen.

Diese Kontrolle hat mich geschützt, mir Sicherheit und Halt gegeben, doch ich brauche den Schutz nicht mehr. Ich für mich weiss, dass Sicherheit nicht in Kontrolle liegt, sondern im Vertrauen in meinen Körper, ins Leben und in ich selbst.

So ist es mir heute möglich mich spontan in ein Café zu setzen, ein Stück Kuchen zu essen und diesen Beitrag zu schreiben. 

„Ich dachte, ich würde mich verlieren, wenn ich die Kontrolle aufgebe. Stattdessen habe ich mich endlich gefunden.“

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