Zwischen Kontrolle und Chaos, zwischen Wahrheit und Lüge - die verzwickte Welt der Essstörung
Heute wirds ehrlich, unangenehm ehrlich
Wer in einer Essstörung steckt, lernt früh, Dinge zu verbergen.
Das Hungern, das Zählen, das Kontrollieren - all das passiert oft im Stillen.
Nach aussen soll alles normal wirken: „Ich hab schon gegessen“, „Mir geht’s gut“, „Ich bin einfach nicht so hungrig.“
Doch hinter diesen Sätzen steckt mehr als nur eine Ausrede – es ist ein Schutzmechanismus. Ein Versuch, die Kontrolle zu behalten und gleichzeitig nicht aufzufallen.
Lügen gehören irgendwann dazu, nicht weil man will, sondern weil man muss.
Menschen mit einer Essstörung sind sich den Lügen zu Beginn oft gar nicht richtig bewusst, da sie die Krankheit noch nicht als solche identifiziert oder erkannt haben. Mit der Zeit wird einem dann bewusst, dass man ständig andere und sich selbst anlügt oder betrügt. Damit geht auch das schlechte Gewissen gegenüber dem sozialen Umfeld einher, denn niemand mit einer Essstörung möchte andere anlügen, doch die Krankheit lässt ihnen keine andere Wahl.
Oft werden Lügen vom Umfeld erkannt, viele sind jedoch zu ausgeklügelt um aufzufliegen.
In den folgenden Zeilen möchte ich typische Lügen und Arten des Versteckens aufdecken. Mir geht es dabei nicht darum, Menschen mit einer Essstörung „in den Rücken zu fallen“ oder ihr Umfeld gegen sie aufzubringen.
Vielmehr möchte ich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass diese Lügen und Verhaltensweisen Teil der Krankheit sind - nicht Ausdruck von Bosheit oder Absicht.
Denn oft beginnt der Prozess einer Veränderung mit dem Erkennen des Ist-Zustands.
Arten des Versteckens und Lügens (bei Anorexie*)
Verstecken im Alltag
- Essen verstecken oder wegwerfen: Mahlzeiten heimlich entsorgen, kleiner essen, als es scheint, oder behaupten, man habe schon gegessen.
- Kleidung als Tarnung: Weite Pullover oder Schichten, um Gewichtsverlust zu verbergen.
- Ausreden bei sozialen Anlässen: Treffen absagen, wenn Essen im Mittelpunkt steht („mir ist schlecht“, „ich hab schon gegessen“).
Lügen im Gespräch
- „Mir geht’s gut.“ – obwohl es innerlich tobt.
- „Ich esse ganz normal.“ – um keine Sorgen auszulösen.
- „Ich hab keinen Hunger.“ – eine Schutzbehauptung, um Kontrolle zu wahren.
Diese Lügen sind selten bösartig. Sie sind Ausdruck von Scham, Angst und dem Bedürfnis, sich selbst und die Krankheit zu schützen
Verstecken vor sich selbst
- Selbsttäuschung: Das eigene Verhalten wird verharmlost („So schlimm ist es doch gar nicht.“).
- Zahlen und Kontrolle als Sicherheit: Das Zählen von Kalorien, Gewicht, Schritten – als Versuch, Ordnung im inneren Chaos zu schaffen.
- Verdrängung: Gefühle wie Angst, Schuld oder Traurigkeit werden ignoriert und ins Essverhalten verlagert.
Verstecken vor Anderen
- Soziale Isolation: Rückzug von Freunden und Familie, um nicht konfrontiert zu werden.
- Doppelleben: Nach aussen das Bild von Stärke, Disziplin oder Gesundheit – im Innern Verzweiflung und Erschöpfung.
- Fassade der Kontrolle: Die Krankheit wirkt oft wie ein Beweis von „Willenskraft“, dabei ist sie das Gegenteil – ein Zeichen von innerer Not.
Verstecken im digitalen Raum (heute sehr präsent)
- Selektive Selbstdarstellung: Nur „gesunde“ oder „normale“ Momente teilen.
- Online-Gruppen oder Foren: Austausch in recovery-Communities kann einerseits Halt geben, andererseits das Verstecken verstärken.
Das Lügen und Verstecken ist kein Zeichen von Schwäche oder Bosheit – es ist ein Symptom der Krankheit.
Es zeigt, wie sehr die Essstörung Kontrolle übernimmt – und wie viel Angst, Scham und Hilflosigkeit dahinterstecken.
Eine Essstörung ist enorm schlau – sie passt sich an und findet immer neue Wege, ihre Lügen und Verstecke aufrechtzuerhalten.
Besonders im Heilungsprozess zeigt sie sich oft wandlungsfähig und versucht, unbemerkt die Kontrolle zu behalten.
Deshalb ist es so wichtig, wachsam zu bleiben und die Lügen der Essstörung immer wieder bewusst zu hinterfragen.
Zu Beginn kann das mit Unterstützung des Umfelds gelingen, doch mit der Zeit lernt man, sich selbst zu reflektieren und die eigenen – oder besser gesagt: die Lügen der Essstörung – zu entlarven. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer darauf eingehen wie sich Lügen im Laufe des Heilungsprozess verändern können.
*ich schreiben hier aus eigener Erfahrung, da ich selbst an einer Anorexie erkrankt bin, kann ich "nur" aus dieser Sicht schreiben aber es ist gut möglich dass die Punkte auch auf andere Essstörungen zutreffen.
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